4/24/08

Minima Moralia

Asyl für Obdachlose. - Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehnsucht nach unabhängiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt, schlagen sie ins Gesicht. Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mit dem Bett die Schwelle von Wachen und Traum abgeschafft. Die Übernächtigen sind allezeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm. Am ärgsten ergeht es wie überall denen, die nicht zu wählen haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so in Bungalows, die morgen schon Laubenhütten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mögen. Das Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat. Diese taugen nur noch dazu, wie alte Konservenbüchsen fortgeworfen zu werden. Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn er sich mit Möbelentwürfen und Innendekoration beschäftigt, gerät er in die Nähe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werkstätte und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten. Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen,: solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; daß man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. (1951)

Asylum for the homeless. – How things are going for private life today is made evident by its arena [Schauplatz]. Actually one can no longer dwell any longer. The traditional dwellings, in which we grew up, have taken on the aspect of something unbearable: every mark of comfort therein is paid for with the betrayal of cognition [Erkenntnis]; every trace of security, with the stuffy community of interest of the family. The newly functionalized ones, constructed as a tabula rasa [Latin: blank slate], are cases made by technical experts for philistines, or factory sites which have strayed into the sphere of consumption, without any relation to the dweller: they slap the longing for an independent existence, which anyway no longer exists, in the face. With prophetic masochism, a German magazine decreed before Hitler that modern human beings want to live close to the ground like animals, abolishing, along with the bed, the boundary between waking and dreaming. Those who stay overnight are available at all times and unresistingly ready for anything, simultaneously alert and unconscious. Whoever flees into genuine but purchased historical housing, embalms themselves alive. Those who try to evade the responsibility for the dwelling, by moving into a hotel or into a furnished apartment, make a canny norm, as it were, out of the compulsory conditions of emigration. Things are worst of all, as always, for those who have no choice at all. They live, if not exactly in slums, then in bungalows which tomorrow may already be thatched huts, trailers [in English in original], autos or camps, resting-places under the open sky. The house is gone. The destruction of the European cities, as much as the labor and concentration camps, are merely the executors of what the immanent development of technics long ago decided for houses. These are good only to be thrown away, like old tin cans. The possibility of dwelling is being annihilated by that of the socialistic society, which, having been missed, sets the bourgeois one in motion towards catastrophe. No individual person can do anything against it. Even those who occupy themselves with furniture designs and interior decoration, would already move in the circle of artsy subtlety in the manner of bibliophiles, however opposed one might be against artsiness in the narrow sense. From a distance, the differences between the Viennese workshops and the Bauhaus are no longer so considerable. In the meantime, the curves of the pure purposive form have become independent of their function and pass over into ornaments, just like the basic shapes of Cubism. The best conduct in regards to all this still appears to be a nonbinding, suspending one: to lead a private life, so long as the social order of society and one’s one needs will allow nothing else, but not to put weight on such, as if it were still socially substantial and individually appropriate. “It is one of my joys, not to be a house-owner,” wrote Nietzsche as early as The Gay Science. To this should be added: ethics today means not being at home in one’s house. This illustrates something of the difficult relationship which individual persons have vis-à-vis their property, so long as they still own anything at all. The trick consists of certifying and expressing the fact that private property no longer belongs to one person, in the sense that the abundance of consumer goods has become potentially so great, that no individual [Individuum] has the right to cling to the principle of their restriction; that nevertheless one must have property, if one does not wish to land in that dependence and privation, which perpetuates the blind continuation of the relations of ownership. But the thesis of this paradox leads to destruction, a loveless lack of attention for things, which necessarily turns against human beings too; and the antithesis is already, the moment one expresses it, an ideology for those who want to keep what is theirs with a bad conscience. There is no right life in the wrong one.

— Theodor W. Adorno - Minima Moralia. Reflections on a Damaged Life. [Translation by Dennis Redmond]

Links:
suhrkamp.de: Theodor W. Adorno - Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. (1951)
Theodor W. Adorno - Minima Moralia. Reflections on a Damaged Life. [Translation by Dennis Redmond]
suhrkamp.de: Jochen Hörisch - Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen
lichtensteiger.de: kunst card
lichtensteiger.de: Bibliography
Remembering Adorno by John Abromeit
Theodor W. Adorno Study Guide
Stefan Müller-Doohm, Adorno - Eine Biographie
zeit.de: MARTIN SEEL: Das Richtige im Falschen
Dem Denkmal gegenüber ist ein Sandkasten unter den Bäumen. [pdf]

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